Die Karte kam mit der Post. Niemand hatte ihn angerufen, keiner hatte gewusst, wie wichtig es ihm gewesen wäre. Noahs alte Augen wurden feucht, und böse Erinnerungen trugen ihn zurück in seine Kindertage.
„Lauf, schnell!“ Mama schickte ihn fort, doch wohin sollte er nur gehen ohne Mama? „Nein, ich will bei dir bleiben“, weinte Noah. „Ich will immer bei dir bleiben, und wenn ich dafür in die Scheol gehen müsste!“ Aber Mama war unerbittlich. „Benutze niemals mehr solche Worte, hörst du! Das heißt Hölle, merk dir das! Und nun geh, bitte, um Moschiach, nein, um Christi Willen, wenn du mich liebst, dann geh!“
Noah war sieben Jahre alt, und die Vorstellung, er solle jemanden verlassen, weil er ihn liebt, war zuviel für ihn. Er barg das Gesicht in den Händen, und ein schreckliches Schluchzen aus den Tiefen seiner Seele schüttelte seinen kleinen Körper.
Als er wieder aufsah, war seine Mutter fort. Ohne sie war es so still geworden. Nur die barschen Befehle der fremden Männer, und der Lärm, mit dem sie alles durcheinander warfen, hallten dumpf durch das Haus. Noah bekam es mit der Angst. Was sollte er nur tun? Diese Männer waren böse, der Klang ihrer Stimmen ließ keinen Zweifel. Und Noah war allein. Er kroch in die hinterste Ecke des Kartoffelkellers und versteckte sich unter einem Jutesack.
Sie hatten alles durchsucht, auch den staubigen Kartoffelkeller. Aber um unter den Jutesack zu sehen, waren sie sich zu fein gewesen. Und Noah war mucksmäuschenstill geblieben, hatte sogar die Luft angehalten. Erst als viel später wieder Ruhe im Haus war, kroch er hervor. Er traute sich nicht, nach oben in die Wohnung zu gehen. „Lauf, schnell!“ hatte Mama gesagt, nur wohin?
Noah wanderte durch die Straßen, es dämmerte schon. Sein Magen begann zu knurren. Wie sehr er seine Mamme vermisste, wo war sie bloß? Ein leichter Regen setzte ein. Es nieselte nur, trotzdem war Noahs dünne Joppe bald durchnässt, und Kälte kam ihm ins Herz.
Andreas war müde. Quer über den Kontinent, die Kriegsgüter mussten an die Front. Drei Tage im Führerstand, und fast kein Schlaf – er freute sich auf sein Bett. Ein Tag Ruhe war ihm vergönnt, übermorgen schon würde er wieder los müssen.
Doch dann sah er den Lütten, und wusste gleich, mit dem stimmt was nicht. „He, wohin des Wegs so spät?“
Noah erschrak, und brachte kein Wort hervor. Andreas fiel auf, dass der Junge zitterte. Er zog seine Jacke aus, und gab sie Noah. Für Noah war das freilich ein Mantel, und der Kohlenstaub am Revers malte ihm ein rußiges Muster auf die Wangen. „Na“, sagte Andreas, „da siehst du gleich wie ein richtiger Lokomotivführer aus. Warum bist du denn noch nicht zu Hause?“
Noah fing an zu weinen. Es war alles zuviel, und es war auch alles egal. Mama war fort. „Es ist niemand mehr da“, schluchzte er. „Ich will nicht mehr leben, keiner mag mich…“
Andreas hockte sich vor das Häuflein Elend und sah dem Kind in die Augen. „Eines musst du dir merken, Kleiner, und zwar für immer: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
So war Andreas plötzlich Papa geworden, und kochte Haferbrei. Noah fasste Vertrauen, und stotternd, und unter vielen Tränen, erzählte er, was geschehen war. Andreas begriff. Er kannte die Viehzüge, wusste, wen man dort hineintrieb. Wohin sie fuhren, das wusste er zwar nicht. Er hatte sich zum Dienst an der Front gemeldet, weil er mit den Menschenschindern nichts zu tun haben wollte. Aber es konnte nichts Gutes sein, das war klar, man konnte es schon daran spüren, wie brutal die Menschen in die Waggons gepfercht wurden.
„Wir müssen sehen, wie es weitergeht. Als erstes brauchst du einen anderen Namen… Noah, das ist zwar ein schöner Name, ich mag ihn, aber leider gibt es Verrückte bei uns, die für ein paar Böse euer ganzes Volk in die Haftung nehmen. Als gäbe es nicht auch Böse bei uns! Mehr als genug sogar!
„Was hältst du von Norbert? Dann bleiben dir wenigstens die ersten zwei Buchstaben, wie gefällt dir das?“ Noah nickte. Noch immer fiel es ihm schwer, keine Angst zu haben. Aber dieser da war nicht so wie die anderen, deren unbedingten Hass er gewohnt war, seit er denken konnte. Es war ihm immer ein Rätsel gewesen, was er getan haben sollte, um solchen Hass zu verdienen. Doch es war besser, man dachte nicht darüber nach, sondern ging diesen Anderen aus dem Weg.
„Gut, dann also Nobbi.“ Andreas zündete sich eine Zigarette an. „Hör zu, ich habe ein Schreberhäuschen draußen am Stadtrand. Da kannst du eine Weile unterkommen, und dann wird es sich schon finden.“
Er schlief eine Nacht darüber, aber das änderte nichts. Es blieb ihm nichts übrig als Susanne einzuweihen. Sie war seine Nachbarin im Schrebergarten, und er würde doch so bald wieder fahren müssen. Morgen schon. Wer sollte sich um das Kind kümmern? So ging er also mit Nobbi zu seiner kleinen Laube und zeigte ihm, wo er sich verstecken müsse, wenn jemand käme. „Und das probieren wir gleich aus, in Ordnung? Ich muss etwas mit der Nachbarin besprechen, bitte bleib solange hier drin.“
Susanne war eine herzensgute Frau, aber mit ihrer Angst kam sie nicht zurecht. „Du bist verrückt!“ rief sie. „Sie werden uns ins Lager werfen!
„Warum sind die nicht fortgegangen? Man hat es denen doch sogar angeboten, auszuwandern!“ ereiferte sie sich. Andreas blickte sie nachdenklich an. „Wird nicht anders gewesen sein als für uns. Stückchen für Stückchen geht die Freiheit verloren, und immerzu redet man sich ein, so schlimm wird es schon nicht werden. Und wenn du endlich erkennst, was aus deiner Heimat geworden ist, dann ist es längst zu spät, noch gemeinsam dagegen aufzustehen.“
Mit viel gutem Zureden, und dem Versprechen, dass der Junge sich die ganze Zeit verborgen halten würde, gelang es ihm schließlich, Susanne zu überreden, nach dem Kind zu sehen und ihm Essen zu bringen. Jedoch nur für ein paar Tage, darauf hatte sie bestanden, und keinen Zweifel gelassen, dass es ihr ernst war damit.
Die Gelegenheit kam zwei Wochen später. Eine Versorgungsfahrt nach Holland, zum Hafen in Rotterdam. Dort war zur Zeit alles ruhig, und er würde es wagen.
„Das ist mein Neffe Norbert. Meine Schwester ist krank, und ich habe ihr versprochen, den Jungen einige Tage zu nehmen. Er wird uns beim Kohleschaufeln helfen und macht bestimmt keinen Ärger.“ Der Heizer sah Andreas erstaunt an. „Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast? Und du, und Kinder? Da lachen ja die Hühner! Auf den werde wohl ich aufpassen müssen.“ Der Heizer hatte fünf Kinder, und er ahnte sofort, dass da etwas faul war. Aber das war ihm einerlei. Jedes Kind ist das Kind jedes Menschen, das war seine Philosophie.
„Jetzt heißt es Abschied nehmen. Bitte sei brav und falle dem Kapitän nicht zur Last. Er hat versprochen, dich in sichere Hände zu bringen.“ Andreas bemühte sich, die Fassung zu bewahren, aber… der Junge war ihm lieb geworden. Als sie neulich ins Grüne gefahren waren, und Fußball gespielt hatten, der Kleine das erste mal wieder fröhlich gewesen war, da hatte er die Zeiten bitterlich verflucht. Und nun brach ihm das Herz.
„Ich werde kämpfen“, versprach Noah. „Und ich werde dich nie vergessen.“
Und nun, Jahrzehnte später, also diese Karte. „Mit großer Trauer geben wir bekannt, dass unser geliebter Vater, Großvater…“ Nach dem Krieg war Noah noch einmal zu Besuch in die alte Heimat gefahren, und zu seiner großen Freude hatte Andreas es überstanden und sogar die Liebe seines Lebens gefunden.
Sie hatten nicht viel geredet, beiden fehlten die Worte. Aber es war eine wunderschöne Zeit gewesen. Danach hatten sie Kontakt gehalten über all die Jahre, sich viele Briefe geschrieben. Noah hatte sich schon gewundert, warum er so viele Monate nichts mehr von Andreas gehört hatte… jetzt wusste er den Grund. Warum nur hatte ihm niemand Bescheid gesagt? Unbedingt hätte er seinem Retter zumindest noch die letzte Ehre erweisen, nein, ihn am Sterbebett trösten wollen.
Aber dann dachte er, dass Andreas doch nun wieder zuhause ist, bei den Engeln, wo er hergekommen sein musste.
Denn die Engel, das sind die, deren Herz das Dunkel besiegt.