“Steig auf”, sagte das weiße Pferd. Es schimmerte golden in den Strahlen der untergehenden Sonne. Aljona zögerte. Sie war 8 Jahre alt und ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, dass sie nicht mit Fremden weggehen dürfe. Aber war ein Pferd ein Fremder? “Wer bist du?” fragte Aljona. “Ich bin ein Bote des Weihnachtsmanns”, sagte das Pferd. “Du hast ihm geschrieben, und manchmal lädt er jemanden ein, der ihm schreibt. Er hat dich ausgewählt, ich weiß nicht warum, das musst du den Weihnachtsmann selbst fragen.”
Aljona stieg auf. Der Bote des Weihnachtsmanns breitete die Flügel aus und flog mit ihr zum Nordpol.
Der Offizier hatte gehofft, dass der Befehl heute, am Vorabend von Weihnachten, nicht gegeben würde. Aber der Befehl war trotzdem gekommen. Seufzend erhob er sich, um das Bataillon einzuweisen und die vielfältigen Vorbereitungen zu treffen.
“Liebe Aljona, ich habe dich gerufen, weil du mir geschrieben hast”, sagte der Weihnachtsmann. “Leider kann ich deinen Wunsch nicht erfüllen. Das hat mich sehr traurig gemacht, deshalb wollte ich dich zu einem Besuch der Weihnachtswerkstatt einladen.” Aljona war enttäuscht. “Ich hab extra nur einen Wunsch auf den Zettel geschrieben”, schniefte sie. “Ja”, sagte der Weihnachtsmann. “Darum hat es mich eben so traurig gemacht. Siehst du, viele Kinder wünschen sich Frieden. Aber die meisten wünschen sich dazu auch ein Schaukelpferd, oder einen Fußball. Dann kann ich diesen Kindern wenigstens das bringen, aber Frieden kann ich nicht schenken.”
“Warum kannst du den Frieden nicht schenken?” Aljona war neugierig geworden, und zum ersten Mal besah sie sich den Weihnachtsmann etwas genauer. Er sah gütig aus und weise, und seine Augen waren voller Liebe. Doch die Frage von Aljona schien ihn zu bekümmern, denn es trat eine dunkle Trauer auf sein Gesicht. “Ich müsste den Menschen etwas nehmen, um Frieden zu erzwingen”, sagte der Weihnachtsmann. “Aber ich bin der Weihnachtsmann, ich kann nur geben, verstehst du?
“Das Handwerk des Krieges ist in allen Wesen, denn es ist Krieg, in der Natur zu überleben. Kälte, Hitze, Wasser, Feuer, und dazu will dich auch noch dauernd jemand auffressen. Wer also kein Krieger ist, kann in der Natur nicht bestehen. Doch eben dies müsste man den Menschen nehmen, um ihnen Frieden aufzuzwingen. Und dann müssten die Menschen sterben.
“Die Wissenschaftler sagen Überlebensinstinkt dazu, vielleicht hast du in der Schule schon einmal davon gehört. Dieser Instinkt ist die stärkste Naturkraft in allen Lebewesen, und jedes Lebewesen hat ihn. Liebe Aljona, ich kann den Menschen diese Kraft nicht nehmen, und könnte ich es tun, würde ich sie zum Tode verurteilen damit. Solange aber die Menschen, wie alle Lebewesen, im Besitz dieser Kraft sind, kann es vorkommen, dass diese Kraft auf ein falsches Ziel gelenkt wird. Und es ist allein Sache der Menschen, dass das nicht geschieht, ich kann daran leider nichts ändern.”
Aljona war nun auch traurig geworden. “Warum machen die Menschen das? Ich verstehe, dass sie Krieg führen müssen um in der Natur zu überleben, aber sie bringen sich doch gegenseitig um! Was hat das mit Überleben zu tun?”
“Sehr viel”, antwortete der Weihnachtsmann. “Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagen die Soldaten. Weil man schlau sein muss, um ihn zu gewinnen. Und was soll ein Rudel Löwen schon tun, wenn ein anderes Rudel ihm die eben erlegte Beute streitig machen will? Am Ende dient es eben dem Überleben aller Löwen, wenn die Fleißigen und Schlauen über die Bösen und Gierigen obsiegen. Verstehst du, liebe Aljona, wenn die Sache eines Krieges eine gerechte wäre, so wäre folglich auch dieser Krieg gerecht.”
Aljona schüttelte den Kopf. “Aber das sagen doch alle, dass ihre Sache gerecht ist!” Der Weihnachtsmann lächelte. “Du bist ein kluges Kind. Ja, alle sagen es, aber nicht alle sagen die Wahrheit. Die einen sind Lügner, die anderen nicht. Und eben dies ist, was bei den Menschen geschehen ist: Die Lügner sind an der Macht, jeder kann es sehen an ihren Kriegen. Aber nur die Menschen selbst können das ändern.”
Am Pult im Gefechtsleitstand wurden die Lämpchen eines nach dem anderen grün. “Feuer”, sagte der Offizier. Eine der Granaten schlug in Aljonas Nachbarhaus ein.
Aljona erwachte von dem furchtbaren Krach. Sie war starr vor Angst und konnte sich nicht bewegen. Ihr Traum von ihrem Besuch beim Weihnachtsmann stand ihr noch lebendig vor Augen. Wo war er nur hin, eben hatte sie doch noch mit ihm gesprochen?
Der Funkenflug des brennenden Nachbarhauses entzündete einen Schwelbrand in Aljonas Haus. Kohlenmonoxyd stieg auf.
Aljona wurde müde. Die Weihnachtswelt, in der würde ich gerne für immer sein, dachte sie. Und noch bevor die Flammen sie erreichten, war sie friedlich ein letztes Mal eingeschlafen und eine der vielen Tränen geworden, die über die Backen des Weihnachtsmanns rannen.