Vor langer Zeit, auf einer anderen Welt
Es war ein guter Tag gewesen. Zuvor war er eine Woche lang umhergestreift, doch alle Bunker waren schon leer gewesen. Und jede Nacht, im unruhigen Schlaf der Qualen des Hungers, hatte ihn die Botin heimgesucht. Aber heute, heute hatte er einen neuen, fast unberührten Ort gefunden, er würde sich sattessen können und endlich wieder tief und zufrieden Ruhe finden. Und vergessen.
Sie war diesmal anders gekleidet, und ihre Flügel leuchteten. Seltsam, dachte er. Ich war mir so sicher, dass das nur Fieberträume meines leeren Magens waren. Und doch ist sie auch heute hier, obwohl ich mich so wohl fühle wie lange nicht mehr.
Wieder packte ihn dieser Schwindel an. Ist es ein Traum? Bin ich wach, oder schlafe ich? Und wo bin ich überhaupt? Er kannte diesen Ort nicht, war noch nie zuvor in seinem Leben in einer Halle wie dieser gewesen. Und doch wanderte er jede Nacht dorthin. Oder brachte ihn die Botin? Mit ihren Flügeln wäre es ihr wohl ein Leichtes, dachte er.
“Es ist deine Seele, die mich ruft”, sagte sie sanft. “Du hast heute eines der letzten Lager der Herrscher gefunden. Bald werde ich diese Welt verlassen. Und solange ich noch hier bin, willst du es wissen, obwohl du nicht einmal die Frage kennst.”
Die alte Wut fiel ihn an. “Was soll das heißen, ich kenne die Frage nicht? Diese Welt stirbt, weil wir in einem schrecklichen Krieg die furchtbarsten Waffen auf sie losgelassen haben. Wie konnten wir so dumm sein, und was sollte man davon nicht kennen?”
Die Botin sah ihn aus klaren, wunderschönen Augen liebevoll an. “Nein, du kennst die Frage nicht. Ich will dir gerne helfen, aber wenn du noch immer nicht bereit bist, zu lernen … deine festgefügten Annahmen zu hinterfragen … wirst du im Unwissen gehen müssen.
“Erstens, woher kommen all die Bunker, vollgefüllt mit Nahrung? Es sind nur noch wenige solche Plätze übrig, und nur noch wenige deiner Art, weil ihr schon das meiste der gespeicherten Vorräte verzehrt habt. Aber wer hat die Bunker gebaut? Und warum? Zweitens, du sagst, ihr hättet die Waffen losgelassen. Das finde ich interessant. Auf welche dieser Waffen hattest du Zugriff? Bist tatsächlich du es gewesen, der die roten Knöpfe gedrückt hat? Nein, du warst es nicht. Aber wer war es dann? Und warum?”
Er begann zu weinen. Stille Tränen kullerten über seine Backen. Ihre Stimme war sanft und gütig. All die Angst, die er vor ihr gehabt hatte, war nur die Angst gewesen, dass er verrückt würde, und Verrückte lebten nicht mehr lange. Er hatte schon zuviele gesehen, die im Wahn in Feuer oder Wasser gerannt waren, aber er … er wollte leben, trotz allem, und obwohl er wusste, dass es keinen Ausweg gab und niemand kommen würde, ihn zu retten.
“Du weißt, warum unsere Welt untergeht? Ja, bitte sage es mir, ich will es wissen. Aber es ist wirklich unverschämt von dir, von mir zu fordern, ich müsse dafür lernen. Ich habe mein ganzes Leben lang nichts anderes getan! Ich war Professor, und hatte mein Leben der Suche nach Wissen verschrieben. Wie kannst du mir sagen, ich wäre nicht bereit, zu lernen?”
Sie nickte. “Vielleicht ist das der Grund, warum du mich gefunden hast. Aber siehst du, das Universum ist unendlich und ewig. Es gibt also keine Grenze für das Wissen, das man erforschen könnte, verstehst du? Und das bedeutet auch, egal wieviel du weißt, du weißt eigentlich nichts. Hinzu kommt, man kann so vieles wissen, aber ist es wichtig für die Lage, in der du bist? Was war dein Fachgebiet?”
Er schluckte. Das war sein wunder Punkt. “Ich war Professor für vergleichende Ethik. Ich habe untersucht, wie unterschiedliche Kulturen ihre Werte definiert haben, und wozu. Ich habe bewiesen, dass es irrelevant ist, welche Wahrheit gilt, sondern eine Ethik nur im Kontext der Ziele eines Volkes bewertet werden kann. Und ich bin dafür mit den höchsten Preisen ausgezeichnet worden.”
Sie lachte glockenhell, auf eine bezaubernde und anmutige Art. Er konnte es ihr nicht verdenken. Mindestens die eine Wahrheit, dass man seinen Planeten nicht zu Wüste verwandeln, und die eigene Art nicht vernichten sollte, mindestens diese eine Wahrheit war derart absolut, dass all seine vielen Bücher und Aufsätze, auf die er so stolz gewesen war, ihn heute nur noch in Selbstekel erschaudern ließen.
“Ihr seid Heuschrecken zum Opfer gefallen. Sie haben deine Welt leergefressen, und nun sind sie weitergezogen”, erklärte sie bestimmt.
“Das ist nicht wahr. Das ist nur eine von diesen verrückten Verschwörungstheorien, weiter nichts. Nein, unsere Art ist falsch, wir sind ein Fehler der Natur, das ist der Grund”, antwortete er wütend. Das fehlte ihm gerade noch, schon wieder so eine Spinnerin. Er hatte mehrere Arbeiten dazu verfasst, warum so viele darauf hereinfielen. Die suchten einfache Erklärungen, weiter nichts.
“Ach”, sagte die Botin, “und deine Erklärung, die ist aber gar nicht einfach? Du bist wirklich lustig. Nein, die Seele Des Universums hat euch wunderschön und perfekt erschaffen, wie sie alles tut.”
Er wusste nicht warum, aber mit einem Mal musste er an seinen Jüngsten denken. Seine Gefährtin war schon über das normale Zeitmaß gewesen, und doch kreißte sie noch einmal. Aber das Würmchen war viel zu früh gekommen, und so konnte es nur mit aller Kunst der Medizin gerettet werden. Er erinnerte sich, wie er tagelang am Inkubator gesessen war, und dem Kleinen Lieder gesungen und Geschichten erzählt hatte. Sogar aus einem seiner Bücher hatte er ihm vorgelesen, der Arzt hatte gesagt, es könnte helfen, wenn ein Frühchen die Eltern hören würde, in seinem stillen und doch so zähen Kampf inmitten all der Apparate, Schläuche und Sonden. Niemals würde er die winzigen Krallen vergessen, man brauchte eine Brille, sie überhaupt zu erkennen, und doch waren sie vollkommen. Und das klitzekleine Wesen hatte damit die Zeigetarse seines Vaters gegriffen, und ihn manchmal angesehen mit Äuglein, die tief und unergründlich waren wie ein Gebirgssee, und es war, als wäre er dankbar und würde die Liebe seines Vaters tatsächlich spüren können.
“Siehst du,”, sagte sie. “Das Licht des Bewusstseins kommt in so vielerlei Gestalt, ihr seid Reptilien, woanders sind es Löwen, Spinnen oder Affen, denen die Große Seele Erkenntnis und Freiheit schenkt. Und doch ist es überall das gleiche Wunder, und es ist überall perfekt. Aber es ist ein Kreuz mit der Freiheit. Mit ihr kommt große Macht, und große Verantwortung. Leider muss man es sagen, ihr seid dem nicht gerecht geworden. Und noch viel bedauerlicher ist es, dass Leute wie du daran einen großen Anteil hatten.
“Du hattest es dir sehr bequem eingerichtet, und hast großen Wohlstand genossen. Wie ist es möglich, dass du dich nie gefragt hast, warum ein so sinnloses Wissen wie das deine so hoch vergütet wird?”
Trotz stieg in ihm auf, und Stolz auf seine akademischen Würden, doch dann brach etwas in ihm. Der Blick seines Jüngsten im Inkubator fiel ihm wieder ein, und dass er nie verstanden hatte, was diese Augen sahen und wofür sein Sohn eigentlich gekämpft hatte. Er war bereits in den ersten Tagen des Letzten Krieges gestorben, eine gentechnische Waffe war auf seine Schule abgefeuert worden, und man hatte den Eltern nicht erlaubt, ihr Kind noch einmal zu sehen. Es wäre besser so, hieß es, behalten Sie das Schillern seiner Schuppen im Gedächtnis, wie es gestern war, und, dass alle jetzt ganz andere Probleme hätten.
Dann vergingen die Pflanzen, denn die kriegführenden Parteien vergifteten den Himmel, so dass der Lichtmangel den Pflanzen die Lebensgrundlage entzog. Die Wüste wuchs Tag um Tag, und auch die Tiere starben, ohne Nahrung. Einige seiner Art blieben übrig, denn man machte die Entdeckung, dass es viele Bunker, vollgestopft mit Vorräten, gab. Wer solche Bunker fand, konnte sich eine Zeitlang damit am Leben erhalten, aber wehe, ein anderer entdeckte auch den gleichen Ort, dann kam es zu Kämpfen. Und so wurde seine Art immer weniger und weniger, bis nun die letzten Bunker gefunden wurden, wie die Botin es gesagt hatte.
“Schau”, begann sie. “Eine kleine Kaste von Räubern hat deine Art seit Jahrtausenden gequält. Sie haben euch in eine Lügenwelt getrieben, damit sie euch ausbeuten konnten wie Vieh. Sie wollten alles für sich, und ihr solltet nur ihre dummen Sklaven sein. Sie sind es auch, die die Bunker gebaut haben – um lange Kriege mit euch durchzustehen, falls ihr euch auflehnt. Ihr habt das auch immer wieder getan, aber die Räuber haben jedesmal gewonnen. Denn hier kommen solche wie du ins Spiel. Ihr habt die Lügen erzählt, die dazu geführt haben, dass ihr nicht die Räuber bekämpft habt, sondern stets nur euch gegenseitig gehasst habt. Und die, die euch die Augen öffnen wollten, die habt ihr johlend aufs Rad geflochten.
“Es war alles Lüge. Über das Geldsystem wurden eure Völker entmachtet, kein einziges Land war noch souverän, alle waren als Wirtschaftsunternehmen inkorporiert, damit die Räuber sie besser ausbeuten konnten. Ständig hat man euch Blödsinn erzählt, dass es nicht genug Energie gäbe. Doch im Äther eurer Welt ist mehr Energie, als ihr mit euren kindischen Kraftwerken jemals in Summe erzeugt habt. Und die Felder der Sonne hättet ihr noch dazu anzapfen können, wenn euch wirklich die Kraft dieser Welt zu wenig geworden wäre. Aber das hätte man euch nicht in Rechnung stellen können, verstehst du? Und so geht es weiter. Eure Medizin war eine einzige Lüge, sicher, für Frühchen, oder Unfälle und dergleichen, war sie phantastisch, aber ansonsten hat man euch ständig Gift verabreicht, das euch immer kränker gemacht hat. Denn wer krank ist, kann nicht kämpfen, und wer ständig Pillen schlucken muss, der ist wie Vieh, aber wie eines, das man dauernd um Geld melkt.
“Die Räuber sind weitergezogen. Auf eurem Nachbarplaneten blüht das Leben, auch alles, das man euch über ihn erzählt hat, war gelogen. Die Mutter Der Welt hat dort die Affen auserkoren für den Weg der Liebe, und als die Räuber euch dazu gebracht hatten, Raumschiffe zu bauen, um dorthin zu gelangen, brachen sie auf, um als nächstes die Affen zu unterwerfen und deren Welt kahlzufressen. Aber nicht, ohne vorher den Letzten Krieg zu entfesseln, damit ihr ihnen nicht folgen und sie aufhalten könnt. Leider sind die Räuber sehr klug und sie haben ein außergewöhnlich umfangreiches Netz aus Lüge und Täuschung um euch gewoben. Und du sagst, das sei eine einfache Erklärung! Du kannst es dir noch nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie schwierig es ist, ihnen auf die Schliche zu kommen. Und nun, ihr habt den leichten Weg gewählt – statt die Dinge im Licht der Liebe zu werten, habt ihr dem Hass den Vorzug gegeben und euch gegenseitig verachtet und bekämpft. Und so hatten die Räuber bequemes Spiel.”
Er wurde müde, so müde. Er wusste, das würde sein letzter Schlaf sein. Die Augen fielen ihm zu, aber eines wollte er unbedingt noch fragen. “Und die Affen? Werden auch sie auf die Räuber hereinfallen?”
“Sie sind frei wie ihr”, antwortete sie sanft. “Niemand kann es sagen. Eines jedoch ist gewiss: Die Mutter wird euch alle immer lieben.”