Die Zweifel hatten schon länger an Jonas genagt. Warum protestierten Veganer bei Edelköchen, aber nicht im Dönerladen? Warum klebten sich Klimaaktivisten vor die arbeitende Bevölkerung, ignorierten aber Panzer mit 100 Liter Dieselverbrauch pro Stunde(!), und natürlich ohne Feinstaubfilter und erst recht nicht Stickoxidabscheidung (AdBlue). Und so weiter, der Beispiele solchen Widersinns waren Legion.
Lange hatte Jonas das alles immer als bedauerliche Irrläufer abgetan, es gab schließlich auch Veganer, die durchaus vor dem Schlachthof protestierten. In seiner Position konnte er es sich sowieso nicht erlauben, Zweifel am eigenen Lebensfundament zu haben, da kam jede Ausrede recht.
Jonas war 10 gewesen als er das erste Mal mit der Umweltbewegung in Kontakt gekommen war. Eine Baumbesetzung im nächsten Dorf. Der Bagger war abgezogen und alle hatten gejubelt. Der Bürgermeister ließ den Baum heimlich in der Nacht zum nächsten Sonntag fällen.
Dass Jonas es seither so weit gebracht hatte, machte ihn immer wieder stolz. Und er hatte auch allen Grund dazu. Nicht nur, dass die globale NGO, der er vorstand, die höchsten Mittel aller NGOs weltweit einwarb, er selbst war auch ein hochgeachteter und äußerst erfolgreicher Autor, der mit seinen Büchern, und vor allem dem Lizenzgeschäft daraus, in die Milliardärsriege aufgestiegen war.
Aber nun hatte seine NGO eine andere NGO übernommen, und bei der Durchsicht der Unterlagen des daraus entstandenen neuen Geschäftsbereichs Medien war Jonas auf dieses Dokument des Geheimdienstes gestoßen. Und das, was Jonas dann gefunden hatte, als er den Spuren des Geheimdokumentes gefolgt war, das hatte seine Welt zusammenbrechen lassen. Menschen protestierten vor Panzern! Sie wurden verschleppt oder getötet, aber niemand berichtete darüber. Irgendwelche Idioten klebten sich an irgendwelche Pulte – alle, absolut alle schrieben darüber, und tagelang.
Und als Jonas dann noch die Befehle las, minutiös wurde angeordnet, wie und ob zu berichten sei, da verstand Jonas, dass er von Anfang an komplett belogen worden war. Sogar schon im Kindergarten.
Man nannte es Operation Mockingbird (engl. “Spottdrossel”, eine nordamerikanische Vogelart, die den Gesang anderer Vogelarten imitieren kann), und für Jonas bedeutete es, dass er alle Gewissheiten, auf die sein Erfolg gegründet war, verlor. Er begann, alles zu hinterfragen – wenn die veröffentlichte Meinung die Meinung der Geheimdienste (noch nicht einmal der Regierungen!) darstellte, was war dann eigentlich überhaupt noch richtig? Das Ausmaß der Lügen, das Jonas zu sehen begann, war atemberaubend. Und er traf seine Entscheidung.
Jonas hatte einen ausreichend großen Betrag für die nächsten hundert Leben sicher versteckt zur Seite gelegt, und seine Familie in eine militärisch bewachte Gemeinde in einem neutralen Land gebracht. Und dann hatte er auf “Senden” gedrückt.
Der Tweet hatte ein globales Beben in der politischen Sphäre ausgelöst. Mit einem Mal lagen die Beeinflussungsmechanismen der öffentlichen Meinung nackt und offen zutage, aber es war noch beunruhigender, wohin die Spuren zu deren Urhebern führten: Man hatte es mit einer uralten bösen Kraft zu tun, welche der Menschheit schon seit Jahrtausenden unermesslichen Schaden zufügte.
Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die stärkste Waffe gegen die böse Kraft war, sie einfach zu ignorieren. Etwas derart simples wie schlichtes Gottvertrauen brachte eine jahrtausendealte Burg des Bösen zum Einsturz. Damit hatte wirklich niemand gerechnet.
“Seine Exzellenz, der Botschafter des hohen Rates, lässt bitten.” Der Sekretär öffnete die Tür, und Daniel trat ein, sein alter Weggefährte, der ihm auch in den Stürmen und brutalen Angriffen auf ihn seit dem Tweet immer die Treue gehalten und zur Seite gestanden hatte. Jonas stand auf, um den Freund zu begrüßen. “Was gibt es denn so Dringendes?” fragte er.
Daniel griff in seine Aktentasche und gab Jonas einen Stapel Papiere. “Die globale Umfrage ist seit zwei Stunden beendet. Was ist das denn für eine neue Verrücktheit von dir? Weltpräsident willst du werden?” Jonas lachte. “Ich hab mit der Umfrage nichts zu tun. Ich fühle mich zwar geehrt, aber ich hab was anderes vor als Weltpräsident.”
“Was meinst du denn mit vorhaben”, fragte Daniel, der hellhörig geworden war. Jonas beugte sich vor und sah seinem Freund ernst in die Augen. “Das beste, was ich jemals erreichen konnte hier auf dieser Welt, war das Amt als Botschafter des hohen Rates zum Schutz der Erde. Was ich in dieser Zeit an Wundern sehen durfte, völlig zerstörte Industriewüsten, die binnen weniger Jahre wieder zu blühendem Land wurden, Tierarten, die man seit Jahrhunderten für ausgestorben glaubte, die aber mit einem Mal wieder erschienen… Nein, es gibt nichts, das ich mehr als das erreichen will. Trotzdem werde ich nicht nur nicht für den Weltpräsidenten kandidieren, ich werde sogar mein Amt als Botschafter niederlegen.
“Du weißt, mein alter Freund, ich habe mich hier auf diesem Planeten noch nie richtig zu Hause gefühlt. Als wäre ich ein Besucher von einer anderen Welt, wir haben ein paar Mal darüber gesprochen. Und jetzt kommen all diese Erfahrungen dazu – wie schnell sich die Natur regenerieren kann, obwohl man uns belügen wollte, dass die Schäden Jahrtausende bleiben würden… Ich gehe auf den Mars, lieber Daniel. Der Mars ist nur eine Umweltkatastrophe, wie wir sie selbst fast erlebt hätten, ich bin davon überzeugt. Der Mars kann wieder eine blühende Welt werden! Und es kommt kein anderer Planet im Sonnensystem in Frage dafür. Naja, und das ist es, was ich vorhabe. Gestern kam meine Ernennungsurkunde als Leiter der Terraforming-Mission. Wir starten in zwei Jahren.”
Jonas sah, wie der Zeiger des Sauerstoffgeräts in den kritischen Bereich wanderte. Na endlich habe ich auch einmal versagt, dachte er. Wurde echt langweilig mit all diesen Erfolgen. Jonas hustete. Viel zu spät hatte man verstanden, dass das erratische Magnetfeld des Mars’ Probleme mit sich brachte, auf die man nur unzureichend vorbereitet war. Die Siedlung war nach dem Überschreiten eines Grenzwerts schneller zusammengebrochen, als man irgendetwas unternehmen konnte. Eine Gestalt trat aus den Schatten.
Der Engel legte liebevoll einen Flügel um Jonas. “Willkommen zurück. Großartige Leistung, ich bin mal wieder so stolz auf dich! Das Bild, wie du damals vom Baum auf die wütenden Baggerfahrer runtergrinst und ihnen eine lange Nase machst, hat einen Ehrenplatz in meiner Sammlung. Jetzt ruh dich erstmal tüchtig aus, und dann habe ich da eine Welt in Proxima Centauri, es fängt dort grad an, so richtig schiefzugehen, und da dachte ich…”