Im Netz des Schicksals

Pablo war 6 oder 7 Jahre alt, als etwas in ihm dunkel wurde. Der Vater kam wieder einmal betrunken nach Hause. Zuerst wusste Pablo nicht, dass der Vater betrunken war, er rannte zu ihm, um ihn zu begrüßen. Doch der Vater hatte beim Würfeln, wie schon oft, den Wochenlohn verspielt, und Pablo kam ihm gerade recht für seine Wut. Er warf den Jungen gegen die Mauer, und Pablos Nase brach.

Dann ging dem Vater die Arbeit verloren, und bittere Armut kehrte in die Hütte ein. Fast täglich schlug er Pablo nun, niemals konnte er es dem Vater recht machen. Aber Pablo ertrug die Schläge stoisch, denn er hatte eine Ersatzfamilie gefunden und wartete auf den Tag.

Zuerst erledigte er nur kleinere Kurierdienste. Da er sich gut hielt, und immer verlässlich seine Aufgaben erfüllte, wurde er für höhere Einsätze eingeteilt. Er stand Wache, und bei den Überfällen auf lokale Geschäftsbesitzer oder feindliche Clans musste er warnen, wenn die Polizei kam. Und bald sah er das erste Mal, wie einer getötet wurde.

Der war hochmütig gewesen, und hatte den Capo von Pablos Gang sogar bespuckt. Aber nun lag er still da, und in seinen Gesichtszügen stand noch das namenlose Grauen, das der Capo ihm zugefügt hatte. Pablo wusste sogleich, das musste er lernen, und dann würde sein Vater schon sehen.

Der Tag des Vaters war nun schon lange vorbei. Pablo war aufgestiegen und kontrollierte ein großes Gebiet. Aus der Jugendgang war eine gefürchtete Bande geworden, die Stützpunkte in vielen Ländern aufgebaut hatte. Drogenhandel, Waffenschmuggel, Migrantenschleusung. Pablo lebte in vollkommenem Luxus, seine weitläufige Finca bot jeden erdenklichen Luxus.

Bisher war Pablo hauptsächlich im Krieg gegen andere Syndikate zum Einsatz gekommen. Das Territorium wurde erbittert verteidigt, und es musste ständig wachsen. Wehe, jemand mischte sich in ihre Geschäfte ein, oder gab der Bande nicht alles, das sie wollte, den ließ es Pablo büßen. Doch nun hatte er die Einladung bekommen, an einer Feier des innersten Führungszirkels teilzunehmen. “Wenn du dich dort bewährst, gibt es keine Grenzen mehr für dich”, hatte der Kurier gesagt, und ihn zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet.

Man verband Pablo die Augen. Nach einer langen Fahrt kamen sie zu einem Gebäude mitten im Dschungel. Drei der Männer kannte Pablo schon, aber die anderen hatte er noch nie gesehen. Eine Frau trat zu ihm, sie war gekleidet in die Gewänder einer Priesterin der alten Zeit. “Trink das, dann werden wir wissen, aus welchem Holz du wirlich geschnitzt bist.” Pablo leerte den Wein gehorsam in einem Zug. Bald schon wurde ihm seltsam. Die Zeit dehnte sich, und alles um ihn her begann in seltsamen Farben und Formen zu flimmern.

Man führte Pablo in einen Raum, der in dunklem Rot ausgekleidet und nur von Kerzen erhellt war. In der Mitte stand ein Altar. Fünf Männer schlugen Trommeln und sangen mit kehliger Stimme monoton in einer Sprache, die Pablo nicht verstand. Die Priesterin kam herein, sie trug ein Bündel mit sich. Sie legte es auf den Altar und schlug die Tücher beiseite. Es war ein Baby. Es war nackt, so konnte Pablo sehen, dass es ein Junge war. Er konnte nicht älter als fünf oder sechs Monate sein.

Über dem Baby erschien ein schwarzer Wirbel, er wurde dichter und dichter, und dann bekam er Augen und ein Gesicht. Pablo fiel auf die Knie, noch niemals in seinem Leben hatte er solche Angst gespürt. “Oh, du kannst ihn sehen”, flüsterte einer der Männer neben Pablo. “Das ist ein sehr gutes Zeichen, nur wenige können es.”

Der Dämon starrte Pablo direkt in die Augen. “Ich beobachte dich schon seit langem. An dem Tag, als du deinen Vater getötest hast, bin ich auf dich aufmerksam geworden. Aber da ist etwas in dir, das stört mich. Wieso hast du es deinem Vater so leicht gemacht?”

“Was er auch an Bösem mir getan hat, so waren es doch seine Lenden, die mir das Leben schenkten. Ich wollte ihm Gnade zeigen, auch wenn er sie mir nie gegeben hat”, antwortete Pablo mit brüchiger Stimme. “Gnade ist für Schwächlinge”, dröhnte der Dämon. “Du wirst dieses Kind töten, und sieh zu, dass es so schlimm wie nur möglich leidet dabei. Dann werde ich dir alle Reichtümer des Herrn der Erde geben.”

In Pablo zersprang etwas. Er sah sich selbst in dem Knaben, der dort auf dem Altar lag, und mit erstaunten und verständnislosen Augen um sich blickte. Als Pablo noch sehr klein gewesen war, war er einmal blutend in die Kirche geflüchtet, und der Pfarrer hatte es ihn gelehrt. “Vater unser, der du bist im Himmel”, begann Pablo zu beten. Und da kam ein Licht in den Raum. Dieses Leuchten ging von einer Spinne aus, die ihr Netz in einer Ecke webte, und es traf mitten in Pablos Herz.

“Wer bist du?” fragte Pablo. “Ein Bote”, sagte die Spinne. Sie trug ein Kreuz auf ihrem Rücken, und es schimmerte golden. “Diese da”, fuhr die Spinne fort, und zeigte auf die Priesterin und die Trommler, “dienen dem Bösen. Sie glauben, es sei der Herr der Welt. Nun, mag sein, dass er diese Welt gestohlen hat, doch der König der Schöpfung lacht nur über ihn. Allerdings hat der König dir deine Seele verliehen, und wenn du dem Bösen weiter folgst, wird Er sie zurückfordern. Und glaube mir, du wärest lieber zehntausend Jahre in der Hölle, als dieses größte Geschenk des Alls zu verlieren. Du wirst dich entscheiden müssen.”

Pablo irrte durch den Dschungel. Die Häscher des Capos hatte er abgeschüttelt, die waren viel zu verblüfft gewesen, als er eine Feuerschale umgestoßen hatte und die Verwirrung genutzt hatte, um zu fliehen. Das hatte ihm ausreichend Vorsprung gegeben. Er kam in ein Dorf, und fragte einen Bauern, der auf dem Weg zum Markt war, ob er ihn mitnehmen könne.

In der Stadt ging Pablo zur Polizei und stellte sich. Er legte ein umfassendes Geständnis ab, und sagte sich von der Bande los. “Andere zu töten um Revier und Besitz, das war eben Krieg”, erklärte er dem Polizeidirektor. “Aber den Teufel beschwören, indem man Babys schlachtet, damit habe ich nichts zu tun.”

Pablo verbüßt seither eine mehrfach lebenslängliche Freiheitsstrafe.

Immer noch wartet er, ob die Spinne wieder mit ihm sprechen wird.