In den Weiten des Himmels warten die Bären

Aishe sah, wie das Blut aus der großen Wunde in ihrem Bauch strömte. Die abgesplitterte Lehne ihres Stuhls war tief hineingebohrt. Aber sie hatte keine Sorge um sich. Der Doktor wird das wieder gut machen, dachte sie. Was sie nicht ertragen konnte, waren die fürchterlichen Schreie ihres Freundes Elias. “Meine Beine, meine Beine! Wo sind meine Beine, ich will meine Beine wiederhaben!”

Die Bombe, die das Schulhaus getroffen hatte, war von verheerender Wirkung gewesen. Viele der Kameraden von Aishe waren tot, andere flehten jämmerlich um Hilfe. Aishe wusste es noch nicht, aber dass sie eine derer war, die nicht schrien, war ein Zeichen.

Aishe schloss die Augen und die Bilder ihres Lebens stiegen vor ihr auf. Elias war immer so großartig gewesen beim Fußball, oft hatte sie ihn begleitet, wenn er ein Spiel hatte. Ihre Eltern durften das nicht wissen, aber eine Freundin war ihr immer zuverlässig zur Seite gestanden und hatte ihr ein Alibi verschafft. Lieber Gott, bitte mach, dass Elias seine Beine behalten kann, er liebt doch den Fußball so sehr, dachte Aishe. Viele Abenteuer hatte Aishe mit Elias erlebt, auf dem Schulweg, oder wenn beide sich von zuhause fortschlichen. All die frechen Streiche und aufregenden Entdeckungen des Wunders in Steinen am Wegesrand, unter denen sich ein Nest wimmelnden Lebens auftat. Ihre Freundschaft überwand mühelos die Grenzen der Religionen, und dass die strengen Eltern sagten, dass sie verboten sei, kümmerte beide nicht im Geringsten.

Ein Licht ging auf, es strahlte so hell, dass Aishe durch ihre geschlossenen Augen hindurch einen niedlichen Spatz erblickte, der herbeigeflattert war und sich auf der Fensterbank niedergelassen hatte. Der Spatz sah Aishe an. “Sei getröstet, mein liebes Kind. Dein Leid endet jetzt.” Und Aishe verstand, der Bote war gekommen.

“Es macht mir nichts, dass ich nun fort muss”, sagte Aishe. “Aber bitte hilf Elias, dass er seine Beine wieder hat. Was soll aus ihm nur werden, wenn er nicht mehr Fußball spielen kann?” Ein Ausdruck tiefer Trauer glitt über das Antlitz des Spatzes. “Sieh hin”, antwortete er. Und Aishe sah den blutigen Brei, zu dem unterhalb der Knie die Beine ihres geliebten Freundes geworden waren. Aishe begann zu weinen. Diese Füße würden keine Tore mehr schießen, nie mehr, denn es gab sie nicht mehr. “Man wird sein Leben wohl retten können”, seufzte der Spatz, “aber wie es dann weitergehen wird, weiß nur seine Seele allein.

“Er wird sich entscheiden müssen, ob er dem Pfad des Hasses folgt, oder dem der Liebe und Vergebung. Niemand kann es sagen, ob er auf Krücken Bomben der Rache bringen will, oder ein Musiker wird, der das Herz der Menschen erleuchtet. Es liegt allein an der Freiheit seiner Seele. Welchen Weg wirst denn du wählen?” Und Aishe sah am Himmel einen Adler kreisen, und sie wusste, von ihrer Antwort hing es ab, ob dieser den Spatz schlagen und nur einen Haufen blutiger Federn von ihm übrig lassen würde.

Ein böser Trotz stieg in Aishe auf. “Jaja, schöne Worte reden, das kannst du gut, doch wie leicht würde dich der Adler töten! Genauso, wie die Feinde mich getötet, und wie sie Elias zu einem Leben in Qual und Leid verurteilt haben. Was willst du von mir? Willst du dich auf Gott berufen, und mir sagen, ich solle Ihm weiter folgen? Aber nichts tut Er für uns, nichts, es ist alles nur Lüge!” Bittere Tränen flossen über Aishes Wangen. Die eine Religion sagt, die anderen sind alle gemeine Feinde, die dem Teufel dienen, aber die andere sagt doch ganz genau das Gleiche, nur anders herum, überlegte sie zornig.

“Ja, das ist der Kern des Übels”, meinte der Spatz bekümmert. “Es gibt kein sie. Es gibt nur den oder die. Und solange die Menschen das nicht verstehen, werden die Kriege niemals enden. Siehst du, Juden, Christen, Moslems, und so viele mehr, auch politische Ideologien, alle erzählen ihren Anhängern, die anderen seien böse, minderwertig und schlecht, und nur die Gefolgsleute des eigenen Kultes wären auserwählt, alles zu besitzen und die anderen als ihre völlig rechtlosen Sklaven zu halten. Aber es gibt die anderen nicht. Es gibt nur jeden, dem das Geschenk der Seele verliehen ist, und damit die Freiheit, in das Licht oder in die Dunkelheit zu gehen. Und wenn von 100 nur einer das Licht gewählt hätte, selbst wenn alle anderen so dunkel wären wie die schwärzeste Nacht, so würde dieser eine doch das himmlische Gericht bestehen. Deshalb ist jedes die soundso immer eine Lüge – egal was das soundso wäre, Herkunft, Glaube, sonstwas. Es ist immer die Wahl jeder einzelnen Seele, wohin sie strebt, niemals die Entscheidung einer Gruppe, verstehst du?”

Aishe nickte. Jetzt sah sie um einiges klarer. “Ist es das, was die Seele ist? Die Freiheit, zu entscheiden zwischen Licht und Dunkel? Aber warum hilft Gott dann nicht jenen, die Seinem Pfad folgen?” Der Spatz legte das Köpfchen schief. “Niemand kann es sagen, ob Er helfen wird. Du musst verstehen, Er ist der König über Billionen von Sonnen und Milliarden von Planeten, die so sind wie der eure. Welch unbegreifliches Wunder die Natur euch geschenkt hat! Was Sie alles zusammenkommen lässt, damit Leben wird – die richtige Entfernung zur Sonne, ein Mond, der die Achse des Planeten stabilisiert, eine Temperaturzone, in welcher es Wasser gibt, ein Schwerkraftriese, bei euch ist es Jupiter, der Kometen einfängt, und noch viel mehr. Eine Welt wie die eure ist sehr selten, wusstest du das?

“Aber was kümmert das Eines, Das über Billionen von Planeten gebietet, und Zillionen von ihnen zu erschaffen vermag? Es gibt also Milliarden von Spezies wie die Menschen im weiten All, nicht nur mit Klauen wie ihr, sondern auch mit Tentakeln, mit Flügeln, mit Flossen. Warum, meinst du, müsste Es ausgerechnet euch helfen? Sicher, das stimmt den König sehr traurig, was hier geschieht, ich selbst habe Ihn einmal weinen gesehen, als das Gas in den Lagern war und der Feuersturm in den Städten. Doch wenn es dies ist, was ihr mit eurer Freiheit tun wollt, warum würde Er euch hindern? Und sogar wenn ihr in einem atomaren Weltenbrand all die Tiere und Pflanzen verglühen ließet, so blieben Ihm dennoch die Fische in den Meeren, bis zu 10.000 und mehr Meter tief reicht Sein Göttlicher Funken, hast du davon schon gehört? Warum sollte Er sich nicht sagen, tja, das war wohl leider ein Fehlschlag mit diesen Menschen, aber in Meinem Universum komponieren Wesen ohne Zahl auch schöne Musik und schreiben genauso bezaubernde Geschichten? Dann wartet Er eben 50 Millionen Jahre, das ist nur ein Wimpernschlag für Ihn, und es werden hier vielleicht Bären sein, denen Er die Gnade der Freiheit der Seele verleiht. Warum sollte Er euch also helfen, wenn es doch das endgültige Dunkel ist, das ihr wollt?”

In Aishes Seele war ein tiefer Frieden eingekehrt. Sie begriff, das Böse ist nur Schein – wer ihm folgt, der wendet sich ab vom Licht, aber wohin er sich wendet, dort ist Nichts. Der Adler war herabgekommen, schon vor einer Weile, und saß ruhig neben dem Spatzen. Nun, da Aishe verstanden hatte, trug der Adler sie hinauf in die Weiten des Himmels, wo die Engel wohnen. “Wenn es viele gibt mit reinem Herzen, wird Er helfen, liebe Aishe, das hat der Spatz vergessen, dir zu sagen”, flüsterte der Adler auf dem langen Weg, wieder und wieder.