Segen und Fluch

“Aber warum haben die spanischen Eroberer alle Männer getötet?” Therese meldete sich aufgeregt. Sie fand es furchtbar, was die Lehrerin erzählte. Sogar die Babyjungen hatten die Conquistadoren geschlachtet, was hätten die ihnen schon tun können? “Die Spanier hatten große Angst vor den Indio-Kriegern”, erklärte Frau Müller geduldig. “Sie haben sogar die Kinder und Babys ermordet, wenn es Knaben waren, und auch die Greise. Die Spanier hatten gesehen, welch hervorragende Kämpfer die Indios waren, und um zu verhindern, dass das Indio-Volk sich jemals gegen sie erheben konnte, haben sie nur die Frauen und Mädchen am Leben gelassen. Und bis heute gibt es deshalb keine reinblütigen Indios mehr in Südamerika, manche sind Nachkommen der weißen Invasoren, aber die Vorfahren der meisten sind Kinder schwarzer Sklavenarbeiter, die die Spanier nach ihrem Feldzug ins Land brachten und in den Goldminen schuften ließen.”

Als Therese diesen Abend zu Bett ging, waren immer noch die Bilder der Soldaten mit Lanzen, wie sie auf Buben einstachen, in ihrem Kopf. Es kann nicht gerecht sein, dachte sie. Gut, die Spanier wollten das Land erobern, ihre Wirtschaft war völlig überschuldet, und ihr König brauchte das Gold. Aber ein ganzes Volk ausrotten dafür? Es ist böse, unendlich böse, sonst nichts. Und mit diesen traurigen Gedanken glitt Therese in den Schlaf.

Da war es wieder, das Licht. Therese kannte es schon, einmal hatte sie ihrer Oma davon erzählt. Die hatte nachdenklich gemeint, dass Therese wohl das zweite Gesicht hätte, und dass sie das von ihrer Ur-Ur-Oma haben müsse, von der hatte man das auch gesagt. “Geh sorgsam damit um, liebe Therese”, hatte Oma gewarnt. “Es ist eine Gabe, aber auch ein Fluch.”

Ein großer Vogel kam herbei, und landete auf der grünen Wiese, zu der Thereses Bett geworden war. Der sieht ja komisch aus, dachte Therese. Ist das ein Geier? Aber er ist so groß! “Wer bist du?” fragte sie das majestätische Tier. “Ich bin ein Kondor”, sagte der Bote. “Möchtest du eine Reise mit mir machen?” Therese zögerte kurz, sie dachte an die Worte der Großmutter, und an den Fluch. Aber ihre Neugier siegte, und sie kletterte schnell auf den breiten Rücken des Kondors. Die beiden flogen in eine ferne Zeit, in einem fernen Land.

Manco hatte große Angst. Sein Vater hatte ihn rufen lassen, und meistens bedeutete das Tadel und Strafe. Manco war ein Träumer, und bei der Jagd hatte er nur selten Erfolg. Das war sehr schlecht, denn als Erstgeborener des hohen Priesters würde er die Linie der Ahnen fortsetzen müssen. Aber wie sollten die Menschen ihn akzeptieren, wenn er ein Versager an den Waffen war? Vor der Tür des Tempels blieb er stehen, laute Worte des Streits ließen ihn zögern. “Du bist der Anführer unseres Volkes! Du musst die weißen Teufel besiegen!” Manco traute seinen Ohren nicht. Keiner hatte es jemals gewagt, so respektlos mit seinem Vater zu reden.

Atahualpa war verzweifelt. Nie zuvor hatten seine Untertanen sich gegen ihn aufgelehnt. Aber wen sollte es wundern, die Besatzer rückten immer weiter vor, und kein Stamm konnte ihnen etwas entgegensetzen. Die Stöcke der Fremden verschossen Blitze, die die Indio-Krieger auf große Entfernung töteten. Und sie trugen ein seltsames Gewand, an dem Schwerter und Speere wirkungslos abprallten. Sie sind eine Strafe der Götter, dachte Atahualpa. Es kann nicht anders sein. Seit 10 Generationen herrschte seine Linie über das Land, würde er der letzte Hohepriester sein? Es klopfte an der Tür, schüchtern und zaghaft. Es war sein Ältester Manco, richtig, er hatte ihn zu sich bestellt. An jenem Morgen, als er den Zaubersud getrunken hatte, war er auf eine Idee gekommen. Atahualpa würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

“Die Götter zürnen uns, mein Sohn”, begrüßte er seinen ungeliebten Erstgeborenen. “Es wird ein großes Opfer von uns verlangt, der Trank der Liane hat es mir heute morgen verkündet. Die Götter wollen mein Wertvollstes, mein Bestes, und das bist du.” Atahualpa zuckte innerlich ob dieser Lüge, denn er zog den Zweitgeborenen vor. Der konnte jagen und fischen, und auch im Schwertkampf schlug er sich schon recht ordentlich. Es war dem Vater deshalb recht, dass der Zweite die Linie fortführen würde, und die Götter würden doch helfen müssen, wenn er seinen ältesten Sohn auf den Altar legen würde. So redete er es sich ein, dass der Geist der Liane es ihm gesagt hätte, und er verstand nicht, dass es nur der dunkle Spiegel der eigenen Seele war, mit dem er sprach unter dem Einfluss des berauschenden Getränks. Dieser Trank war ein sorgsam gehütetes Geheimnis und der Kern der Macht seines Clans, man verstand die Tiere und hörte die Geister des Windes, und vor allem wusste man, wie man den anderen Angst vor den Göttern machen konnte; und es war diese Angst, mit der man den Pöbel dazu bringen konnte, alles zu tun, und sei es noch so widersinnig und verrückt, sogar, faulenzenden und Unsinn über die Seele Des Alls erzählenden Priestern ein Leben in fürstlichem Müßiggang zu besorgen. So war sein Clan aufgestiegen, und lebte in bestem Wohlstand, und mehr als ein paar Riten von Zeit zu Zeit waren dafür nicht erforderlich. Nun, der missratene Erstgeborene war ein geringer Preis, dieses reiche und bequeme Leben fortsetzen zu können.

Manco willigte sofort ein. Er würde endlich die Liebe seines Vaters gewinnen, und er war bereit, dafür jeden Preis zu zahlen. Die Opferung wurde für den späten Nachmittag festgelegt, zur Stunde des glücklichen Windes, der den Puma nährt.

Sie hatten Manco auf den Opferstein gebracht und ihn festgebunden. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen, sein Vater hatte ihm den Trank der Liane gegeben, und Manco war in ferne Weiten geglitten. Es war ihm gleich, was nun geschehen würde, dieser eine, letzte Kuss des Vaters war echt gewesen. Er würde seinen Vater stolz machen.

Über dem Tempelplatz begannen die Geier zu krächzen, in Erwartung eines weiteren Mahls, das diese seltsamen affenartigen Wesen ihnen immer wieder schenkten. Manco blickte in den Himmel, und dann sah er ihn. Hoch oben über den Geiern kreiste ein Kondor. Das ist der Bote der Götter, dachte Manco. Sie werden mein Opfer annehmen und mein Volk wird gerettet sein.

Therese schrie auf. “Du musst etwas tun”, rief sie dem Kondor zu. “Du darfst es nicht zulassen, dass der Vater sein eigenes Kind tötet, bitte, mach etwas!” Doch der Kondor schüttelte den Kopf. “Wenn es das ist, was dieser Priester mit seiner Freiheit anfangen will, so vermag niemand ihn daran zu hindern. Die Mutter Des Universums gab uns Freiheit, natürlich, wer sie falsch verwendet, der wird bitter bezahlen. Dennoch, es ist immer die Entscheidung jedes Einzelnen, was er mit dieser Freiheit tut, und könnte irgendwer sich darin einmischen, so wäre es doch gar keine Freiheit.”

Und aus den Wäldern brach ein Donner, und die spanischen Soldaten, die sich leise angeschlichen hatten schon seit Stunden, ließen ihre Musketen krachen. Atahualpa war einer der ersten der fiel, das Opfermesser, mit dem er seinen Sohn hatte ermorden wollen, lag nun nutzlos im roten Staub. Schnell hatten die Eroberer alle auf dem Platz getötet, inmitten der Zeremonie war niemand auf einen Kampf gefasst gewesen. “Sucht im Dorf die Männer, und bringt sie um, alle”, sagte der Commandante zu seinem Capitano. Und die Truppe durchkämmte das Dorf und tötete alle Männer, denn das hatte der Bischof befohlen, dass die fremden Heiden samt und sonders Dämonen der Hölle waren, und nur ihre Frauen weiterleben dürften als Diener der großen spanischen Krone. Es war Hass auf das Fremde, und Angst vor dem Andersartigen, aber auch Neid auf das naturverbundene und glückliche Leben der Indios. Wehe, die Schäflein würden erfahren, wie frei und ungezwungen die Geschlechter in glücklicher Liebe leben konnten, so wie es bei den Indios war, wo niemand die Erbsünde kannte, und die Vorstellung, ausgerechnet die Quelle des Glücks zwischen den Beinen sei böse, nur Gelächter hervorrufen konnte. Doch eben dies ist die erste Quelle der Macht der Kirche, die Angst vor der fleischlichen Liebe, und so waren die Indios eine große Bedrohung geworden. Und der Bischof hatte befohlen, alle Männer der Indios zu töten, damit dieses Volk enden müsse.

“Hier liegt ein Kind, es lebt noch”, rief einer der Landsknechte dem Capitano zu. “Was ist es für eins, sieh nach”, antwortete dieser. Der Soldat hob den Lendenschurz. “Es ist ein Knabe, Sire”, und als der Capitano nickte, durchbohrte der Infanterist Mancos Kinderherz mit seinem Schwert.

“Du musst nun gehen”, sagte der Condor zu Therese. “Ich muss Manco zu seinem Himmlischen Vater bringen, Er wird ihn trösten und ihm erklären, dass er ein Dichter sein sollte, der seinem Volk Weisheit bringt. Aber sein Volk hatte sich für das Böse entschieden, genau wie das Volk der Spanier. Immerzu suchen wir, wer im Streit der Gute ist, aber so oft ist es Böse gegen Böse, und die Guten sind nichts als deren Opfer. Und doch gewinnen die Guten die Ewigkeit, und im Spiel der Bösen verlieren nur sie selbst. Das Gold der Inkas wird zwar den Spaniern noch einmal eine kurze Blüte verschaffen, aber dann wird ihr grausamer Völkermord das eigene Reich zerstören, so wie sie das Reich der Inkas zerstört haben. Die Spanier hätten so viel lernen können von den Indios, aber sie ergaben sich dem Hass. Doch war es anders herum wirklich besser? Auch die Priester der Indios hassten die Spanier nur für das Fremde, das sie waren, und eine andere Möglichkeit als den Kampf haben sie nie in Erwägung gezogen. Es gab nicht genug wie Manco auch bei ihnen.”

Sanft ließ der Kondor sich auf dem Opferstein nieder und hieß Manco aufsitzen. Dann machte er die beiden Kinder miteinander bekannt, und sie hatten sich viel zu erzählen auf der langen Reise zurück zu der grünen Wiese, die nun wieder Thereses Bett geworden war. Therese winkte dem Kondor und dem Jungen noch lange nach, als sie wieder aufgestiegen waren für den Flug zum Himmlischen Vater. Und dann verstand sie es, Freiheit ist ein Segen und ein Fluch.