Unsichtbare Ketten

“Der Leiter der Präsenz war Ihr Vater, nicht wahr”? Nexim II. nickte. “Er ist bis zum Schluss auf dieser Welt geblieben und dort auch gestorben. Ich wurde empfangen bei einem seiner seltenen Heimaturlaube, und ich habe ihn während meiner Kindheit nur wenig gesehen. Aber einmal habe ich ihn bei seiner Arbeit besucht, und da war ich sehr stolz auf ihn. So eine wunderschöne Welt… was mir am besten gefiel, er hielt sich immer im Hintergrund, die meisten der Wesen wussten gar nichts von ihm und unserer Art.”

“Naja”, sagte der Staffelführer. “Vielleicht war das ein Fehler. Dadurch haben die Wesen nie verstanden, dass es andere Welten gibt. Und das hat den Fremden eröffnet, sie heimlich zu manipulieren und zu beherrschen. Natürlich, es kommt immer auf die Absichten an, aber ich finde, man muss es berücksichtigen im Urteil über die Wesen. Dass die nicht merken konnten wie ihnen geschieht, ist, finde ich, ein Stück weit auch unser Fehler.”

Das Gespräch mit dem Staffelführer verfolgte Nexim II. über Tage. Der unfreieste Sklave ist der, der nicht weiß, dass er ein Sklave ist, hatte der Staffelführer hinzugesetzt. Und Nexim II. musste akzeptieren, dass daran etwas Wahres ist. Wie soll sich ein Sklave auflehnen, seine Freiheit einfordern – wenn er noch nicht einmal weiß, dass er gefangen ist? Nexim II.s Bild von seinem Vater hatte Risse bekommen.

Es waren nur noch zwei Tage bis zur Invasion. Alle Pläne waren festgelegt und besprochen. Zunächst würde es nur um die Befestigung eines Brückenkopfes gehen, und dann würde man ganz öffentlich ein alternatives System errichten und darauf bauen, dass die Wesen von ganz alleine überlaufen würden. Man wollte es sich zu Nutze machen, dass die Fremden heimlich operierten, fast niemand von den Wesen wusste, dass sie überhaupt da waren. Wobei es eines der Ziele der Mission war, herauszufinden, warum die Fremden das taten.

Die letzte Nachricht der Präsenz hatte nach 4.500 Jahren die Heimatwelt erreicht, und nach langen Diskussionen im Forschungsrat war entschieden worden, dass wegen der alten und längst vergessenen Präsenz auf dieser Welt dennoch weiterhin eine Verantwortung gegenüber den Wesen bestand. Doch es war hoch hergegangen, natürlich war zunächst eine Fernerkundung durchgeführt worden, und was dabei herausgekommen war, war beängstigend. “Diese Wesen sind zu dominant” war seinerzeit das Hauptargument gegen die Präsenz auf dieser Welt gewesen, und wie richtig das gewesen war, konnte man nun auf das Erschreckendste sehen, denn die Fremden hatten eben jene Eigenschaft gezielt benutzt und sogar geschürt. Und es war eine ziemliche Hölle, die dabei herausgekommen war. Ständig Kriege und Hungersnöte, und wie krank die Wesen allesamt waren! Was den Forschungsrat aber am meisten verstörte, das waren die extreme Grausamkeit und Gewalt, die überall, und vor allem besonders schlimm gegen den Nachwuchs der Wesen, verübt wurden.

Aber es war klar, dass die Grausamkeit und Gewalt von den Fremden, über den den Wesen innewohnenden Grad hinaus, geschürt wurden; und die brachten die Wesen mit vielerlei Mitteln dazu, das sogar freiwillig auszuüben. Nur warum die Fremden das taten, das war unbekannt. Und den Grund dafür zu finden, das war ein weiteres Ziel der Mission.

“Eine getarnte Flotte von Raumschiffen hat sich in Verwaltungseinheit Ost 6 materialisiert. Ihre Tarnung war so gut, dass wir sie erst kurz vor der Landung orten konnten. Erwarte Anweisungen.” Der Sektionschef drehte sein Implantat zur Gefühlsunterdrückung auf maximale Leistung. Er hatte panische Angst, so etwas hatte er noch nie gesehen. Ja, Einheit 1 versprach bei seinen wöchentlichen Motivationen immer, dass solcherart Technologie bald kommen würde, aber das sagte er schon seit Jahrtausenden. Er müsste einmal hier sein, dachte der Sektionschef, und sich selber ansehen, mit welch unfassbaren Schwierigkeiten wir dauernd zu kämpfen haben, dann würde er nicht so große Töne spucken.

“Sofort angreifen und vernichten. Alle Kämpfer und schweres Gerät zusammenziehen und mit maximaler Truppenstärke vorgehen.” Die Antwort der Zentrale war erst nach merklicher Verzögerung gekommen, ein Zeichen, dass der Rechenkern mit der Vielzahl der Variablen überfordert gewesen war. Wenn wir endlich Computer-Fertigung hier hätten, dachte der Sektionschef. Der alte Rechner aus dem Schiff des Expeditionstrupps war inzwischen hoffnungslos überfordert mit der gestiegenen Komplexität.

“Negativ”, funkte der Sektionschef zurück. “Ich gehe davon aus, dass uns die Invasionsflotte technologisch himmelhoch überlegen ist.” Doch die Zentrale blieb hart.

Sie kamen auf Pferden. Viele hatten nur Pfeil und Bogen, aber manche auch mühselig und nach jedem Schuss neu zu beladende Musketen, die Bleikugeln verschossen. Das tatsächlich größte Problem für die Mission waren aber die Katapulte, mit denen die Wesen riesige Steinbrocken und mit Pech bestrichene brennende Holzklötze warfen. Doch die Taktik des Forschungsrats ging auf. Leider gab es in der ersten Welle zwar viele Tote auf Seiten der Wesen, aber als Nexim II. in schimmernder Rüstung vor die Wesen trat, in den Augen der Wesen groß wie ein Riese, und die Kugeln der Musketen wirkungslos an ihm abprallten, da warfen sich die Wesen in den Staub, und ihre Armee löste sich in heilloser Konfusion auf.

Erst dann erschienen die Maschinen der Fremden am Horizont, und griffen mit leistungsfähigen Strahlenwaffen an. Aber diese zweite Mission war kein friedliches Forschungs- und Entwicklungsteam. Nexim II. war Mitglied einer Eliteeinheit, und die Mission verfügte über die beste Waffentechnik seines Volkes. Es war ein ungleicher und kurzer Kampf.

So gab es denn alsbald zwei Welten auf dieser Welt. Eine rasch erblühende, in der das Goldene Gesetz herrschte, und damit auch das Glück. Die beiden Spezies waren wieder Freunde geworden in dieser einen Welt. Und es gab eine zweite, dunkle, Welt, die nicht erkennen ließ, was ihre Absichten waren. In dieser zweiten Welt waren die Wesen Sklaven ohne es zu wissen. Zu Anfang begriffen viele Sklaven-Wesen noch sehr schnell, was mit ihnen geschehen war, und schlossen sich der zweiten Präsenz an. So dass die Präsenz zu Beginn sich rasch ausbreiten konnte. Doch die Fremden reagierten nach der ersten Niederlage bewunderungswürdig kaltblütig, und setzten eine Legende in Umlauf, welche den Sklaven-Wesen so sehr den Kopf verwirrte, dass sie sich sogar eher selbst getötet hätten, als anzuerkennen, dass es andere Wesen anderswo überhaupt geben könne.

Das brachte den Plan des Forschungsrates zu einem recht abrupten Halt. Man hatte zwar ein erhebliches Gebiet befreit, aber weiter ging es nicht mehr. Schließlich, die Wesen umzubringen, um sie aus der Gewalt der Fremden zu lösen, war ausgeschlossen. Aber genau so hatten die Fremden die Wesen programmiert. Die Wesen töteten sich nun tatsächlich lieber selbst, als der Wahrheit zuzuhören.

Nexim II. ordnete die Evakuierung an. Er würde keines der Wesen mitnehmen, so schwer es ihm auch fiel. Die von den Fremden ausgelöste dreißig Meter hohe Schlammflut würde die meisten töten, aber Nexim II. hatte beschlossen, dass es von Anfang an ein Fehler gewesen war, die Präsenz überhaupt zu errichten. Nach wie vor verstand er nicht, warum die Fremden eigentlich taten, was sie taten. Was war das Ziel? Noch rätselhafter aber war es Nexim II., warum die Wesen die Fremden bei diesem unbekannten Ziel sogar unterstützten. Denn auch die Wesen wussten nicht, was das Ziel war, man hatte viele eingehend befragt. Von den Fremden aber hatte man nie einen lebendig in die Finger bekommen. Die Fremden erschienen schon aus der Ferne tot, kein Gedankenkontakt war möglich, aber näherte man sich ihnen, schalteten sie sich einfach ab. Und waren tot, nichts konnte man sie noch fragen.

Nein, Nexim II. würde keines der Wesen mitnehmen. Die Niederlage gegen die Fremden hatte seine Einstellung gegenüber den Wesen verändert. Er begriff einfach nicht, warum, bei all den schrecklichen Dingen, die die Fremden auf dieser Welt und mit den Wesen vornahmen, die Wesen freiwillig immer weiter mitmachten, so viele sogar, dass gegen ihre schiere Zahl sogar die technologische Überlegenheit versagt hatte. Ja, die Fremden verfügten über sehr gute Möglichkeiten der Gedankenkontrolle, aber das waren doch trotzdem alles immer und immer wieder nur Lügen? Warum denken die Wesen nicht nach? Und Nexim II. sah es inzwischen so – entweder die Wesen konnten sich nicht wehren gegen die Lügen, dann sollte man sie aufgeben. Oder sie wollten sich nicht wehren gegen die Lügen, dann sollte man sie erst recht aufgeben.

Die Wesen würden alleine ihren Weg finden müssen. Nexim II. verstand nun viel besser, warum sein Vater die Wesen so im Stillen belassen hatte. Er hatte gewollt, dass die Wesen in freier Wahl gedeihen konnten. Und wie es anders herum aussah, wenn also Fremde keine Wahl beließen, das hatte Nexim II. in den vergangenen Jahrzehnten zur Genüge erleben müssen, und es war schrecklich mit anzusehen gewesen. Und Nexim II. wusste deshalb nun aus eigener Anschauung, dass sein Vater bei den Guten gewesen war, und die Zweifel, die das Gespräch mit dem Staffelführer kurz vor der Invasion vor Jahrzehnten gesät hatte, diese Risse im Bild des Vaters verließen Nexim II.

Sein Kreuzer sprang in den Hyperraum. Euch Wesen dieser Welt alles Gute, dachte Nexim II. Er würde dem Forschungsrat berichten. Und zwei Tränen rollten über seine blauen Wangen.