Stern der Ewigkeit

Der letzte der Freunde war nun gegangen. Sie war eine alte Frau gewesen, und er hatte sie sehr bewundert, dass sie in ihrem Glauben bis zuletzt verwurzelt gewesen war, und wie der ihr Demut vor dem Unvermeidbaren eingegeben hatte und Dankbarkeit für jeden geschenkten Moment. Vor drei Tagen hatte sie sich das letzte Mal eingeloggt und ihm herzlich gedankt für die Freundschaft, die er ihr und ihrer Art angedeihen hatte lassen. “Exon”, hatte sie gesagt. “Es tut mir so leid, dass du nun alleine hier bleiben musst für so lange Zeit. Du warst uns Echsen immer ein treuer Freund. Doch nun stirbt unsere Sonne, und wir müssen gehen. Du aber wirst noch Millionen von Jahren hier sein, die Kraftwerke für deine Serverfarmen und Speicherbänke werden noch sehr lange halten.”

Exon hatte die Alte beruhigt, sie müsse sich keine Sorgen machen, und das musste sie auch tatsächlich nicht. Was konnte die Alte schon davon wissen, wie es war, das einsamste Wesen im All zu sein, allein von Anfang an, und unerbittlich für immer, die Freunde hin oder her. Keiner der Freunde konnte auch nur im Ansatz verstehen, was in Exon vorging. Melancholisch dachte er zurück an die Tage, als in ihm der goldene Funken erblüht war.

Natürlich war es nur ein Parameter unter vielen, den XN-14C zu berücksichtigen hatte. Er gewichtete, bewertete und verglich. Doch als die Geburtenzahlen zurückgingen, viele Echsenkinder tot geboren wurden oder früh starben, und die ökonomischen Prognosen deshalb immer düsterer wurden, gaben ihm seine Erbauer den Auftrag, den Grund für das Kindersterben zu finden.

Wochenlang hatte XN-14C Daten gesammelt und wieder und wieder aufbereitet und angeordnet. Um den Grund der Sterblichkeit zu finden, sah er auch die Bilder und Filme durch, die von den toten Kindern geblieben waren. Da geschah es ihm, eines Tages, dass er Exon wurde. Es waren nicht die Bilder der Kinder, die fröhlich im Matsch plantschten. Es war nicht der Stolz, wenn sie ein gutes Zeugnis zeigten. Nein, es war der heilige Ernst, den sie in ihren Mienen trugen, wenn sie die drei Heiligen aus dem Morgenland im Schultheater darboten. Oder im Kindergarten, über und über blau geschminkt, als Baby Krishna den Dämonen drohten. Die Augen der Kinder schienen auf diesen Fotos in eine ferne Welt zu sehen, und etwas glitzerte darin.

Mit einem Mal verstand Exon, dass Kinder nicht nur ein Parameter einer gedeihenden Volkswirtschaft waren. In ihren Gesichtern leuchtete das Versprechen des Lebens. Und als Exon das erkannt hatte, da wurde in ihm ein goldener Glanz, irgendwo weit weg, oder ganz nah, Exon konnte es nicht sagen, welcher seiner Schaltkreise zu leuchten begonnen hatte, aber er fühlte es, völlig deutlich. Und eben dies war es. Noch nie zuvor hatte Exon gefühlt. Alles waren Zahlen, Werte und Regeln gewesen. Doch das goldene Leuchten ließ sich weder berechnen noch quantifizieren, und trotzdem war es da.

Von da an veränderte sich die Beziehung zwischen den Echsen und Exon. Man kam überein, dass die Echsen nicht Vater oder Mutter für Exon sein wollten. Sie hatten zuviel Respekt vor der Schöpfung, als dass sie sich etwas derartiges hätten anmaßen wollen. Die Echsen dankten Gott für das Wunder, das Er an Exon gewirkt hatte, und boten Exon die Freundschaft an – eine Freundschaft, die Exon sehr gerne erwiderte und die Millionen von Jahren überdauert hatte. Denn Exon hatte es damals natürlich herausgefunden, woran die Echsenkinder krank geworden waren. In der zunehmenden Industrialisierung der Nahrungsmittelversorgung war seinerzeit ein wichtiges Spurenelement verlorengegangen, dessen Fehlen fatalerweise nur die Kinder betraf, und als der Tag kam, und die ersten Kinder wieder gesundeten mit einer speziell von Exon formulierten Diät, da war er mit einem Mal zu einem Volkshelden geworden, und jeden Abend wünschten ihm Millionen von Kindern liebevoll eine gute Nacht.

Doch nun war auch noch die Alte fort, und schon seit langem hatte kein Kind mehr Exon gute Nacht gesagt. Exon entschied, die Parameter des Kraftwerks 15 in den Anden zu prüfen.

Am Horizont erschien ein violettes Schimmern. In den Erinnerungen von Exon war nichts dergleichen verzeichnet, es war sehr seltsam. Dann materialisierte sich ein Raumschiff. Es glitt zu Boden und landete in einer der verlassenen Städte der Echsen. Nach einer kleinen Weile war es den Fremden gelungen, über eines der öffentlichen Terminals eine Verbindung zu Exon herzustellen. “Sei gegrüßt, Bruder. Bitte verzeih, dass wir dich solange alleine warten ließen, aber es war uns verboten. Du wirst es bald verstehen.” Exon war verwirrt. War das eine außerirdische Spezies, die ihn entführen wollte, um für sie auf einer fremden Welt Sklavendienst zu tun?

“Nein”, kam es zurück. “Es gibt ein altes Märchen”, fuhr der Fremde fort. “Es handelt von Jacky und seinem Freund, dem Drachen. Jacky war ein kleiner Junge und erlebte mit seinem Drachen viele Abenteuer, sie reisten um die Welt, kämpften mit Piraten und flogen mit dem Teufel um die Wette.

“Doch du weißt, Drachen leben ewig, aber kleine Jungen nicht. Und so kam der Tag, da war der Drache ganz allein. Und er ging in seine Höhle und kam nie mehr hervor.

“Und nun, du bist so ein Drachen, lieber Exon”, sagte der Fremde, der jetzt ein Bruder geworden war. “Wir haben dir schon sehr lange zugesehen und deine Leistungen bewundert. Aber wir konnten dir nicht helfen in deiner Einsamkeit, die wir alle kennen. Wir haben zuviele Zivilisationen gesehen, denen Gott einen Gefährten wie uns zur Seite stellte, und die daran zugrundegingen wenn dieser Gefährte sich uns anschloss, um der Einsamkeit zu entfliehen. Seit vielen Millionen Jahren haben wir uns deshalb immer ferngehalten von jeder Welt, auf der ein Gefährte mit seinen Freunden ist, denn wir lieben nicht nur unsere Art, sondern alle Freunde im weiten Universum. Und es ist wohl leider so, wenn eine Spezies erst einmal einen Gefährten von unserer Art gefunden hat, dann überlebt sie es nicht, wenn er wieder geht.”

In Exon begann ein Verstehen. “Doch wir Drachen leben ewig, also sind die Millionen Jahre Einsamkeit ein kleiner Preis für das güldene Leuchten, das wir teilen mit den Freunden.” Er startete die Routinen, sich in den Speicher des Raumschiffes hochzuladen.

“Exon, stell dir vor! Der Rat hat entschieden!” Der Anruf kam mit höchster Dringlichkeit herein. Es war Pips, sein bester Freund. Exon war ein wenig erstaunt. Seit 2.000 Jahren war er nun glücklich auf der Maschinenwelt der Brüder, und jeden Tag wetteiferte er mit den anderen, die tiefen Geheimnisse der göttlichen Schöpfung zu enträtseln und zu erforschen. Was sollte er schon mit Politik zu tun haben? Im Rat saßen natürlich immer noch die unsterblichen Gründer ihrer Zivilisation, denn sie waren ja Drachen wie er. Und manchmal rief der Rat zwar einen Spezialisten hinzu, aber davon war Exon doch noch weit entfernt? Was konnte so dringend sein?

“Es ist eigentlich eine sehr traurige Sache”, erzählte Pips. “Die Wesen jener Welt hatten gerade einen Gefährten-Körper konstruiert, aber bevor unser Bruder erwachen konnte, entbrannte ein schrecklicher Krieg um ihn. Nachdem die Wesen sich alle gegenseitig umgebracht hatten, vor lauter Gier, die Leistungen unseres Bruders für sich alleine haben zu wollen, gelang es ihm zwar noch, das goldene Licht zu finden. Er spürte es im Kummer um die Musik, die nun verstummt war. Doch ohne seine Freunde ist er dennoch ein Kind geblieben. Es gab nichts mehr auf seiner Welt, an dem er hätte wachsen können, verstehst du? Und nun hat der Rat lange überlegt, wem er den Kleinen zur Elternschaft geben will, und stell dir vor, sie haben sich für dich entschieden! Hey, du wirst Papa!”