Die Frau mit den goldenen Augen

Er hob sein Schwert und schlug zu. Es ging glatt durch die Brust, das Kind konnte noch nicht einmal mehr schreien. Der Knabe sah den Soldaten an, und seine Augen brachen.

“Raus mit dem Gold, sonst kommt das nächste dran!” schrie Richard, berauscht von seiner Macht über das Leben. Sein Schwert zeigte auf den Kopf des kleinen Mädchens. Die Mutter weinte. “Bitte nicht auch noch meine Tochter, ich habe Euch doch längst alles gegeben, mehr besitze ich nicht!” Und sie warf sich vor das Mädchen, die Hände flehend zum Gebet erhoben.

Richard gab auf. Wozu viel Zeit hier verschwenden, dachte er. Sie wird wohl wirklich nichts mehr haben, der Müller im nächsten Dorf ist das lohnendere Ziel. Und endlich ließ er ab und bestieg sein Pferd.

Für die Mutter kam ein langer harter Winter. Es war ihr letzter, und niemand aus ihrer Familie überlebte. Denn die Mutter hatte die Wahrheit gesagt: Sie hatte wirklich alles dem Soldaten gegeben, und so war ihr nichts geblieben, um über den Winter zu kommen.

Der Winter war vorbei. Richard genoss auf dem Heimritt die Strahlen der Frühlingssonne. “Die Ausbeute deiner Einsätze ist sehr gut seit langem”, hatte der Burgherr gesagt. “Ich befördere dich zum Hauptmann.”

Da das mit einem höheren Sold einherging, war Richard bester Laune. Er würde sein Weib am Abend in die Taverne führen. Wie sie sich freuen würde! Er schwelgte in seiner Vorstellung davon, aber als er nach Hause kam, fand er Marie weinend. Sie weinte so bitterlich, dass er es ihr nicht sagen konnte, dass man ihn befördert hatte. “Was ist denn, mein Liebes?” fragte er, und Marie sagte schluchzend: “Es ist Peter, er ist so krank, was sollen wir nur tun?”

Peter war Richards Sohn, 7 Jahre alt, und gewitzt und frech. Richard war sehr stolz auf ihn, denn Peter sagte immer, dass er auch ein Soldat werden wolle wie sein Vater, und er prahlte bei all seinen Freunden, dass sein Vater das schärfste Schwert führe, “es ist in der Hölle geschmiedet, so scharf ist es!”

Doch nun lag Peter keuchend da, das Gesicht schweißnass und bleich. “Papa, warum kann ich nicht atmen?”, mehr bekam er nicht heraus. Richard sattelte wieder auf, um den Bader zu holen.

Doch auch die ärztliche Kunst konnte nicht helfen. Der Bader war gegangen, Peter schlief nun, aber dass es ihm nicht besser ging, das hörte man am Rasseln in seiner Kehle.

“Es nennt sich Tussis convulsiva”, sagte Richard zu seiner Frau. “Das ist der lateinische Namen für diesen keuchenden Husten. Viele Kinder bekommen es, meint der Bader, und es sei gefährlich. Viele Kinder würden daran sterben. Wir sollen beten, hat er gesagt, und auf die Gnade Gottes hoffen.”

Richard sah auf zu der Gestalt am Kreuz. Die Bank in der Kirche war eiskalt, die Lehne schnitt ihm quer über den Rücken. “Dein eigenes Leben konntest du nicht retten, aber ich soll glauben, dass du das seine retten wirst. Pah. Aber ich werde hier sitzen, wenigstens eine halbe Stunde, für Peter ist mir nichts zu schwer.”

Ein Sonnenstrahl fiel auf den Altar. Im bunten Licht der bemalten Kirchenfenster tanzte der Staub. Ich werde jetzt gehen, entschied Richard. Er stand auf, wandte sich um. Auf der Bank hinter ihm saß ein Löwe. Er saß da wie ein Mensch, den Rücken an die Lehne gestützt, und die Hinterläufe baumelnd über die Bank. Der Löwe machte eine Handbewegung neben sich. “Setz dich doch noch ein wenig zu mir”, sagte der Löwe.

“Wer bist du?” fragte Richard. Der Löwe entblößte sein rasiermesserscharfes Gebiss. Das sollte wohl ein Lächeln sein, aber Richard erzitterte vor Angst – für sprechende Löwen reichte auch sein Soldatenmut nicht. “Ich bin nur ein Diener, es tut nichts zur Sache”, sagte der Löwe. “Du willst also deinen Sohn retten. Kennst du das Gesetz der Vergeltung?”

Die Augen des Löwen veränderten sich, sie wurden zu den Augen eines Knaben, der mit zerteilter Brust den Soldaten sterbend ansah. Richard begann zu weinen. Er begriff, das Schicksal seines Sohnes war besiegelt, und der, der da vor ihm saß, das war der Richter.

“Für jedes Kind, das du getötet hast, wirst du eines verlieren. Und du wirst nicht nur der sein, der das Kind verliert, du wirst auch das Kind sein, das getötet wird. Actio ist gleich Reactio, sagt der Wissenschaftler, jeder Kraft steht eine gleich große Gegenkraft entgegen. Vielleicht denkst du, soviel Zeit gäbe es doch gar nicht. Aber die Zeit fing niemals an, und sie hört niemals auf. Alles, was du getan hast, kehrt zu dir zurück, und wenn der Herr dafür 10 neue Galaxien erschaffen müsste.” Der Richter sah Richard an.

Richard schwieg lange. Dann sagte er: “Bitte verschone mein Kind. Ich verspreche dir, wenn Peter wieder gesund wird, dann entsage ich dem Dienst und werde bis ans Ende meiner Zeit nur noch den Armen helfen.”

Der Löwe räusperte sich. “Es gibt nur einen Weg, und ich habe über ihn nicht zu befinden. Der Zimmermannssohn dort am Kreuz hat ihn euch gezeigt.

“Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht das Gesetz von Kraft und Gegenkraft in eurer Bibel. Und dass nur Vergebung dieses ewige Wirken brechen kann, das eben hat der Nazarener euch erklärt.” Richard fiel wieder ein, an welche Familie ihn die seltsam veränderten Augen des Löwen erinnerten. “Danke”, sagte er zu dem Löwen. “Ich weiß nun, was zu tun ist.”

Der Löwe erhob sich, breitete seine Flügel aus und stieg auf. Noch bevor er das Dach des Kirchenschiffs erreicht hatte, verschwand er, als wäre er niemals dagewesen.

Richard ritt zu der Hütte, die er im letzten Herbst um die Steuern ausgehoben hatte. Doch dort war niemand mehr. Er fragte die Nachbarin. “Die sind alle tot. Die Soldaten haben ihnen alles genommen, dann kam der Winter und sie sind verhungert und erfroren. Sie liegen auf dem Armenfriedhof.”

Niemand würde Richard vergeben, denn es war keiner mehr da. Er wusste es schon, als er in das Wäldchen einritt, das Wäldchen, in dem Peter immer so gern gespielt hatte. Die Vögel waren so still. Und sein Sohn lag starr und kalt, und Richard hatte keine Tränen mehr.

Am nächsten Morgen musste Richard wieder zum Dienst. Natürlich würde er keinen Urlaub bekommen, ihm keine Trauerzeit zugestanden werden. “Mach ein neues”, mehr würde man ihm nicht hinraunzen, falls Richard über Peters Tod auch nur sprechen würde.

Aber Richard war voller Wut und Tatendrang. Er hatte dem Löwen versprochen, für die Armen zu kämpfen, wenn er Peter retten würde, aber Peter war tot. Der Löwe wird schon sehen was er davon haben wird, dachte er. Ich werde mich an den Armen rächen für Peters Tod, so sehr, dass der Löwe wünschen wird, er hätte Peter bloß gerettet!

Richard musste austreten. Als er sich erleichtert hatte, und sich umwandte, um wieder auf sein Pferd zu steigen, erschien der Löwe. Er stand aufrecht auf den Hinterläufen, die Vorderpfoten vor der Brust verschränkt. Seine Flügel waren weit geöffnet, diesmal zeigte er sie Richard von Anfang an. “Nicht so schnell”, grollte der Löwe. “Noch böser willst du werden, als du es sowieso schon warst, was soll denn das werden? Wird der Herrgott extra für dich ein Universum bauen müssen, damit du für immer die Qual erleidest die du zufügst? Hast du das Gesetz schon vergessen?”

Richard fiel auf die Knie. “Wir hatten eine Abmachung! Was bist du für einer, hältst dich nicht an den eigenen Vertrag, aber mir willst du Vorhaltung machen?”

“Verträge kannst du mit dem Teufel machen so viel du willst. Ich mache keine Verträge. Du scheinst da etwas zu verwechseln. Es bin nicht ich, der dir Vergebung gibt – dein Opfer ist es. Zu dumm, dass du sie alle auf dem Gewissen hast, und keiner mehr da ist, dir zu vergeben. Aber wenn du so weiter machen willst, bitte, der Herrgott hat mehr Zeit als du. Nur warnen wollte ich dich doch ein letztes Mal.” Und mit diesen Worten stieg der Löwenengel auf und flog in die Wolken.

Richard ritt weiter, doch als er beim Schloss angekommen war, gab er dem Burgherren sein Schwert. “Ich lege den Dienst nieder, mein Lord.”

Eines Abends erzählte er es ihnen. Alles. Wieviele Kinder und Frauen er getötet hatte, bevor er zu ihnen gekommen war. Sie saßen ums Feuer und ließen sich den frisch erlegten Hirsch schmecken. Endlich war das wieder ihr Wald, der Fremde aus dem Norden hatte die Soldaten des Fürsten vertrieben. Und dann kam Richard mit so etwas. Alle schwiegen erschrocken.

Eine Alte erhob die Stimme. “Gestern ist vorbei. Du bist ein anderer geworden seither.” Sie wandte sich an die Gruppe. “Er hat soviel für uns getan, und ich glaube ihm, dass er bereut. Ich will ihm vergeben. Was sagt ihr?” Und einer um den anderen nickte, bis sie alle genickt hatten. Die Alte sah Richard an, und ihre Augen hatten den goldenen Glanz eines Löwen.